Erhebung für das Land Bremen wird vor 100 Fachpersonen präsentiert
30.10.2024Die gynäkologische Versorgung von mobilitätseingeschränkten Frauen im Land Bremen weist Lücken auf und ist deutlich eingeschränkter als die Versorgung nicht-behinderter Frauen. Dieser Befund ergibt sich aus einer Erhebung, die heute (30. Oktober 2024) im Martinsclub vor rund 100 Fachleuten von Interessenvertretungen, Politik, Einrichtungen und Behörden aus ganz Norddeutschland vorgestellt und diskutiert wird.
Die Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz hatte die Erhebung beauftragt. Realisiert wurde sie durch den Landesbehindertenbeauftragten und die Zentralstelle der Landesfrauenbeauftragten (ZGF). Das Amt für Versorgung und Integration sowie die Kassenärztliche Vereinigung unterstützten das Vorhaben.
Die Befragung erfolgte zwischen 2023 und 2024, hierzu wurden Fragebögen von 280 Frauen mit Mobilitätseinschränkungen, knapp 28 Gynäkologinnen und Gynäkologen sowie 40 Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen ausgewertet und zusätzlich Interviews geführt. Ein Teil der befragten Frauen erlebt die Versorgung als ungenügend. Sie berichten von unzureichender Barrierefreiheit und einem erschwerten Zugang zu den Praxen, von respektlosem und entmündigendem Verhalten des Personals und von einer nicht immer gut erlebten Arzt-Patientin-Beziehung. Das seit 2011 bestehende Angebot der barrierefreien gynäkologischen Sprechstunde am Klinikum Bremen-Mitte, das derzeit alle drei Wochen für einen Nachmittag verfügbar ist, kennen drei Viertel der Befragten gar nicht. Gynäkologinnen und Gynäkologen in den niedergelassenen Praxen berichten, dass es herausfordernd für sie ist, immobile Patientinnen zu versorgen, da ihnen Lifter fehlen und sie beim Transfer auf den Behandlungsstuhl unterstützen. Fachpersonen der Eingliederungshilfe weisen vor allem darauf hin, dass bei Terminvereinbarung oftmals nicht ausreichend klar ist, ob die Praxis den konkreten Bedarfen der Patientinnen in Hinblick auf die Bewegungsfreiheit entsprechen können.
Die Bremer Befunde entsprechen bundesweiten Untersuchungen, unter anderem des Robert-Koch-Instituts, die in der Vergangenheit ergeben hatten, dass der Zugang zu gynäkologischer Versorgung für Frauen mit Behinderung häufig eingeschränkt sei. In der Folge nehmen weniger Frauen Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen wahr und ein Teil verzichtet ganz auf gynäkologische Versorgung. Mit der heutigen Präsentation der Ergebnisse der Bremer Befragung soll ein Prozess beginnen, an dessen Ende die gynäkologische Versorgung von mobilitätseingeschränkten Frauen im Land Bremen deutlich verbessert ist.
Die Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz Claudia Bernhard erklärt: "Im Gegensatz zu anderen Regionen besitzt Bremen bereits ein barrierefreies gynäkologisches Angebot für mobilitätsbeeinträchtigte Menschen am Klinikum Bremen-Mitte, das nach wie vor unverzichtbar ist: Das Portal der Kassenärztlichen Vereinigung Bremen weist zwar sechs Praxen in Bremen aus, die barrierefrei beziehungsweise barrierearm sind. In der Realität zeigen sich dann aber oftmals Schwierigkeiten, die durch die Praxen nicht mitgedacht wurden oder aufgrund örtlicher Gegebenheiten nicht umgesetzt werden konnten. Diese Diskrepanz gilt es zu überwinden, damit Wartezeiten nicht unendlich lang werden und damit Patientinnen eine freie Wahl der Ärztin oder des Arztes haben."
Landesbehindertenbeauftragter Arne Frankenstein erklärt: "Behinderte Menschen sind bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen strukturell benachteiligt. Eine gesundheitliche Versorgung von gleicher Qualität und Bandbreite ist gegenwärtig nicht gewährleistet. Grund hierfür sind insbesondere bauliche, ausstattungsbezogene und einstellungsbedingte Barrieren. In Bremen gibt es in der gynäkologischen Versorgung beispielsweise keine einzige Praxis mit einem Lifter", so Frankenstein. Studien zeigten, dass Frauen mit Behinderungen seltener an Untersuchungen zur Früherkennung von Brust- und Gebärmutterhalskrebs teilnehmen und Schwierigkeiten haben, geeignete medizinische Einrichtungen zu finden. Dies führe manchmal auch dazu, dass sie auf gynäkologische Versorgung verzichten. "Die Auswertung der Erhebung sollte nun schnell zu konkreten Verabredungen führen, wie die bestehende Versorgungslücke in Bremen bedarfsgerecht geschlossen werden kann", so der Landesbehindertenbeauftragte.
Die stellvertretende Landesfrauenbeauftragte Katharina Kunze erklärt: "Auch wenn sich auf den ersten Blick der Eindruck ergibt, dass die Versorgung in Bremen halbwegs ausreichend sein mag, so müssen wir doch genau hinschauen: Wenn ein Teil der befragten Frauen gleichlautend fehlende Zugänglichkeit und fehlende Sensibilität des Personals beklagt, sich beschämend behandelt und damit gedemütigt fühlt, dann ist das ein nicht hinzunehmender Befund, der sich ändern muss. Dass Frauen mit Behinderungen weniger oder keine gynäkologische Versorgung in Anspruch nehmen oder nehmen können, ist ein überdeutlicher Beleg von Diskriminierung. Es ist gut, wenn wir nun etwas mehr Klarheit über die Situation von mobilitätsbehinderten Frauen in Bremen haben und durch die Breite der Erhebung auch verschiedene Sichtweisen kennen – der heutige Tag ist ein gelungener Auftakt für den Einstieg in einen Verbesserungsprozess."
Anlass und Ziel der Erhebung: Anlass für die Erhebung waren Hinweise von Interessenvertretungen behinderter Menschen sowie Gynäkologinnen und Gynäkologen, dass die barrierefreie gynäkologische Versorgung in Bremen nicht ausreichend sei. Daneben ergab sich die Sorge, dass die barrierefreie gynäkologische Sprechstunde im Klinikum Bremen-Mitte aktuell mit Mängeln versehen und perspektivisch unsicher ist. Denn ein Großteil der hier sehr gering vergüteten Ärztinnen geht demnächst in den Ruhestand, zudem weisen die Räume Mängel im Hinblick auf die Barrierefreiheit und die Organisation logistische Defizite auf. Deshalb hatte die Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz ein Projektteam bestehend aus dem Office des Landesbehindertenbeauftragten und der Zentralstelle der Landesfrauenbeauftragten (ZGF) mit der Erhebung beauftragt, die vom Amt für Versorgung und Integration (AVIB) sowie der Kassenärztlichen Vereinigung unterstützt wurde. Ziel war es, quantitative und qualitative Daten zu sammeln, die ein umfassendes Bild zeichnen, wie Frauen mit Mobilitätsbehinderungen, Gynäkologinnen und Gynäkologen sowie Fachkräfte von Behinderteneinrichtungen die bestehende Versorgungssituation im Land Bremen erleben.
Anzahl der Befragten und Rückmeldungen: Insgesamt wurden in drei Teilerhebungen im Zeitraum 2023/24 knapp 1.900 gehbehinderte Frauen, 71 Praxen mit 147 Gynäkologen und Gynäkologinnen sowie 109 Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen angeschrieben. Von den Angeschriebenen antworteten 280 Frauen, 28 Praxen und 40 Einrichtungen. Neben den Antworten aus einem Online-Fragebogen wurden vertiefende Interviews geführt und ausgewertet.
Das sagen die befragten Frauen: Sie sehen Handlungsbedarfe bei der Schulung und Sensibilisierung des medizinischen Personals, wünschen sich mehr Rücksicht auf den erhöhten Zeitbedarf, den eine Untersuchung bei ihnen erfordert, sowie mehr bauliche Barrierefreiheit wie stufenlose Begehbarkeit, barrierefreie WCs, absenkbare Liegen und Behandlungsstühle sowie einen abgesenkten Empfangstresen. Manche berichten von persönlichen Belastungen und Anstrengungen, Besuche werden als beschämend und demütigend erlebt. Das Angebot der barrierefreien gynäkologischen Sprechstunde am Klinikum Bremen Mitte ist nur einem Viertel der Befragten bekannt und die freie Arztwahl wird hier nicht gegeben gesehen.
Das sagen die befragten Ärztinnen und Ärzte: Sie sehen ihr Personal und ihre Ausstattung als überwiegend gut aufgestellt für die Behandlung gehbehinderter Frauen. Allerdings verfügt keine Praxis im Land über einen Lifter, der die Patientin auf den Untersuchungsstuhl heben kann, sowie nur weniger als die Hälfte über ein barrierefreies WC. Die Medizinerinnen und Mediziner finden ihren erhöhten Zeitbedarf und den erhöhten Personaleinsatz, den eine Untersuchung einer mobilitätsbehinderten Patientin erfordert, unzureichend vergütet. Für die Behandlung sei viel Flexibilität und mehr Personal erforderlich, was aber wegen des Fachkräftemangels oft schwierig zu bewältigen sei.
Das sagen die befragten Fachkräfte in den Einrichtungen: Sie bewerten die Versorgungslage überwiegend als ausreichend und haben sich arrangiert, knapp ein Drittel ist unzufrieden. Fachkräftemangel in den Wohneinrichtungen trifft hier auf mangelnde barrierefreie Versorgung, vor allem wenn es um Frauen mit Mehrfachbehinderungen geht. Besuche in der Arztpraxis binden mehr Personal, das dann in der Wohneinrichtung woanders fehlt. Die Fachkräfte wünschen sich eine stadtteilnahe Versorgung, mehr Informationen in Leichter Sprache und vor allem verlässliche Angaben zur Barrierefreiheit, denn die sei trotz Zusage vor Ort dann doch nicht oder nur eingeschränkt gegeben.
Das ergibt die Befragung zur Nutzung der barrierefreien gynäkologischen Sprechstunde am Klinikum Bremen-Mitte (KBM): Sie findet derzeit alle drei Wochen an einem Mittwochnachmittag statt. Die dort tätigen Ärztinnen beklagen kurzfristige Terminabsagen, eine Unterfinanzierung ihrer Arbeit und Mängel in der Organisation. Patientinnen wiederum berichten von Schwierigkeiten, hier einen Termin zu bekommen, sowie davon, dass die Räume nach einem Umzug innerhalb des KBM kleiner und nicht mehr einfach zu erreichen seien. Zudem sei die freie Arztwahl hier nicht gegeben.
Dr. Mo Urban, Referentin für Gesundheit bei der ZGF und Projektleiterin der Erhebung, ordnet die Ergebnisse ein: "Der Rücklauf der Befragung liegt bei allen drei Gruppen mindestens im erwartbaren Bereich, wie ihn auch andere, ähnlich angelegte Studien verzeichnen – in einem sogar weit darüber. Wir konnten somit valide Erkenntnisse über die Versorgung im Land Bremen generieren. Insgesamt entsprechen unsere Ergebnisse den Befunden, die andere bundesweite Studien auch aufgezeigt haben. Das Besondere ist bei unserer Befragung, dass wir drei Perspektiven auf die Versorgungslage zusammenbringen, die uns erlauben, auch die manchmal nicht funktionierenden Schnittstellen zu verstehen. Nun geht es darum, dass wir uns miteinander die Details genau ansehen und gemeinsam Schritte entwickeln, die gynäkologische Situation von Frauen mit Mobilitätsbehinderungen im Land Bremen zu verbessern. Dass wir hier in einen über Bremen hinaus wegweisenden Prozess eintreten, zeigt das bundesweite Interesse an unserer Erhebung und der heutigen Veranstaltung."
Die Erhebung soll Anfang kommenden Jahres als Publikation veröffentlicht werden.
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