21.01.2004
Der Senator für Bildung und Wissenschaft, Willi Lemke, erläutert heute (21.01.2004) im Schütting vor Mitgliedern der Handelskammer Bremen das Konzept der für das kommende Schuljahr geplanten Schulreform im Lande Bremen. Die Rede von Senator Willi Lemke ist hier im folgenden dokumentiert:
„Sehr geehrte Damen und Herren,
ich bedanke mich herzlich für die Einladung. Gerade vor Vertretern der ausbildenden Betriebe stelle ich gern die „neue Bremer Schule“ vor. Die Schulen sind bei ihrer Arbeit in besonderem Maße auf die enge Kooperation mit den zukünftigen Abnehmern angewiesen Ich freue mich, dass es in Bremen bereits ein erhebliches Maß an Zusammenarbeit gibt, in die Sie viel Zeit und Kraft investieren. Dafür herzlichen Dank.
1.1.Sie alle wissen, dass die PISA-Ergebnisse dem bremischen Schulwesen einen Spiegel vorgehalten haben, der uns aufs höchste beunruhigen musste. Die beiden bittersten Erkenntnisse für mich waren folgende:
In diesen beiden Punkten und vielen anderen – so etwa auch in Mathematik und den Naturwissenschaften - hat Bremen unter allen Bundesländern am schlechtesten abgeschnitten. Da ist es nur ein geringer Trost, dass unsere Spitzenschüler (5 %) sehr wohl mit der Spitze der bayrischen Gymnasiasten mithalten können. Die Tatsache, dass Bremen eine besonders hohe Quote von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern und von Migranten hat - für Bremerhaven gilt das umso mehr -, ist eine der Ursachen. Aber es ist, wie uns die Wissenschaftler überzeugend nachgewiesen haben, nicht die wesentliche. Wir müssen die Herausforderung annehmen, unser Bildungswesen deutlich besser zu machen und die Lernkultur so zu verändern, dass der Unterricht nachhaltig wirksam wird.
1.2.Nach Bekanntgabe dieses Ergebnisses, vor zwei Jahren haben wir mit zusätzlichen durch die Bürgerschaft bewilligten Ressourcen eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, von denen ich Ihnen einige hier aufzählen möchte:
2.1 Veränderung der Schulstruktur
In der Bremer Öffentlichkeit ist die Veränderung der Schulstruktur im Augenblick das beherrschende Thema. Ich möchte gern zu Beginn verdeutlichen, dass Strukturveränderungen noch kein Wert an sich ist. Sie muss einer Verbesserung der Qualität dienen. Wenn es uns nicht gelingt, den Unterricht an den Schulen in welcher Schulform auch immer – nachhaltig zu verbessern, nützt eine veränderte Schulstruktur nichts. Wir werden die Diskussion um die Schulstruktur deshalb nutzen für eine Verbesserung der Unterrichtsqualität.
Künftig wird es keine Orientierungsstufe mehr geben. Nach der Grundschule entscheiden die Eltern nach Beratung durch die Schule, ob ihr Kind auf eine Sekundarschule, ein Gymnasium oder eine Gesamtschule geht.
Bei der Entscheidung ist in erster Linie zu berücksichtigen, ob das Kind den künftigen Anforderungen gewachsen ist. Wir haben die neue Schule so flexibel gestaltet, dass bei guter Lernentwicklung auch später noch ein Wechsel möglich ist, der bis zum Abitur führen kann. Um der bestehenden Nachfrage von Eltern gerecht zu werden, planen wir die Einrichtung weiterer integrierter Stadtteilschulen und durchgängiger Gymnasien zum kommenden Schuljahr.
Die neue Bremer Schule bietet mehr Möglichkeiten für ein längeres gemeinsames Lernen. Mehr Schülerinnen und Schüler als bisher sollen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft qualifizierte Bildungsabschlüsse erreichen können. Ein flexibles Angebot ermöglicht ein individuelles Lerntempo.
Zu den einzelnen Schulformen:
Neben der vierjährigen Grundschule wird es an einigen Standorten eine sechsjährige Grundschule geben.
In der sechsjährigen Grundschule (Klasse 1 - 6) können die Kinder 2 Jahre länger zusammenbleiben. Die zweite Fremdsprache kann in Klasse 6 gewählt werden.
Nach der 6. Klasse ist ein Übergang in eine integrierte Stadtteilschule oder Gesamtschule sinnvoll. Dazu treffen die Schulen Absprachen.
Die Lerninhalte werden in Klasse 5 und 6 in allen Schularten vergleichbar sein. Deshalb können Eltern für ihr Kind auch ein Gymnasium oder eine Sekundarschule wählen. Die Schule entscheidet am Ende der 6. Klasse über entsprechende Berechtigungen.
Neu ist vor allem die Sekundarschule:
Die Sekundarschule ersetzt im Schulzentrum die bisherige Haupt- und Realschule. Hier erhalten die Schülerinnen und Schüler eine allgemeine Grundbildung bei besonderer Berücksichtigung der zukünftigen Anforderungen des Berufslebens.
In den ersten vier Jahren werden alle Jugendlichen im Klassenverband gemeinsam unterrichtet. Die zweite Fremdsprache kann ab Klasse 6 gewählt werden. Besonders leistungsstarke Kinder können nach Klasse 6 auf ein Gymnasium überwechseln.
Ab Klasse 7 werden je nach Leistung unterschiedliche Kurse in den Kernfächern angeboten. So kann ein Schüler z.B. in Mathematik an einem Kurs im erweitertem Niveau teilnehmen, auch wenn er in Englisch einen Kurs mit Grundniveau besucht. Ein besonderes Arbeitslehrekonzept sichert wirtschaftliche Kenntnisse und praktische Erfahrungen.
In den Klassen 9 und 10 werden Haupt- und Realschulklassen eingerichtet.
In den Hauptschulklassen wird in Zusammenarbeit mit beruflichen Schulen und Betrieben sehr praxisorientiert und berufsbezogen unterrichtet, um so allen Schülerinnen und Schülern einen Abschluss und den Übergang in den Beruf zu ermöglichen.
Realschulklassen bereiten mit unterschiedlichen, anspruchsvollen Wahlpflichtfächern auf die Berufsausbildung oder auf weiterführende Schulen vor.
Nach der 10. Klasse können die Schülerinnen und Schüler eine Berufsausbildung beginnen. Mit dem Realschulabschluss ist auch der Übergang in Berufsfachschulen bzw. Fachoberschulen und bei entsprechenden Leistungen in das Berufliche Gymnasium oder die Gymnasiale Oberstufe möglich.
Ich persönlich hoffe sehr, dass es uns mit der Sekundarschule gelingt, mehr Schülerinnen und Schüler zu einem qualifizierten und tragfähigen Abschluss und anschließend in zukunftsträchtige Ausbildungsplätze zu bringen. Hier sind wir auf Ihre Unterstützung sehr angewiesen.
Der nun folgende Bildungsgang des Gymnasiums ist Ihnen bekannt, er verändert sich aber, weil er nun mit der 5. Klasse beginnt und die Schulzeit auf 12 Jahre verkürzt wird. Um die gleichen Lernziele bis zum Abitur in 8 Jahren zu erreichen, werden die wöchentlichen Unterrichtsstunden ab Klasse 6 mit dem Beginn der zweite Fremdsprache erhöht. Ab Klasse 7 verlängert sich die Schulzeit bei 34 Unterrichtsstunden pro Woche auf Nachmittage oder den Samstag.
Ab dem Ende der 6. Klasse entscheidet die Schule darüber, ob der Leistungsstand der Schülerin oder des Schülers für ein erfolgreiches Weiterlernen im Gymnasium ausreicht. Andernfalls geht er oder sie auf die Sekundarschule über. Der Übergang in die Einführungsphase der Gymnasialen Oberstufe (Beginn der Klasse 10) kann mit einem Schulwechsel verbunden sein. Schülerinnen und Schüler können je nach gewünschtem Profil eine Gymnasiale Oberstufe oder ein Berufliches Gymnasium wählen.
Bei der Gesamtschule ändert sich nichts an der Struktur, es ändert sich nur ihre Zahl. In der Regel führt sie in 13 Jahren zum Abitur, aber für Gruppen von Schülerinnen und Schülern sollen auch zwölfjährige Bildungsgänge ermöglicht werden. Die Gesamtschule bietet am Ende der 10. Klasse alle Abschlüsse des gegliederten Schulwesens an.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir gehen davon aus, dass diese Strukturveränderungen in Zusammenhang mit Maßnahmen der Qualitätsentwicklung den Leistungstand der Bremer Schülerinnen und Schüler deutlich heben werden.
2.2. Systematische Qualitätsentwicklung und –sicherung
Um den Unterricht in seinen Wirkungen nachhaltig zu verbessern, wollen wir eine systematische Strategie von Qualitätsentwicklungen auflegen, mit der bisherige Maßnahmen weitergeführt und mit neuen Ansätzen verbunden werden. Wir erreichen eine Veränderung nur, wenn jeder Arbeitsbereich seine Verantwortlichkeiten mit voller Kraft wahrnimmt. Dazu müssen die Verantwortlichkeiten klarer definiert und Ergebnisse systematisch kontrolliert werden.
Ich will auch dies in einzelnen Punkten verdeutlichen:
Schulen werden verpflichtet, ihre Arbeit intern zu evaluieren und darüber Rechenschaft abzulegen, die Behörde wird sowohl den Prozess wie das Ergebnis extern evaluieren .Wir planen, mittelfristig einen regelmäßig erscheinenden Bildungsbericht für Bremen zu erstellen.
Die skandinavischen und angelsächsischen Länder zeigen uns, dass es möglich ist, Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Begabungen so zu fördern und fordern, dass sie nicht nur bessere Spitzenleistungen erreichen, sondern auch in der Breite deutlich besser abschneiden als deutsche Schüler. Dazu müssen Lehrerinnen und Lehrer lernen, wie sie Schülern individuell unterschiedliche Lernangebote machen können und mit vielfältigen Methoden die Anforderungen an einen modernen, lebendigen und anregenden Unterricht erfüllen können. Auch in Bremen gibt es sicher Lehrerinnen und Lehrer, die dies bereits können. Aber PISA zeigt uns, dass dies nicht in allen Schulen der Fall ist. Deshalb muss die Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer verpflichtend werden, wir denken zunächst an 40 Stunden jährlich in der unterrichtsfreien Zeit.
Darüber hinaus müssen wir intensiv arbeiten an einem System leistungsbezogener Anreize für Lehrerinnen und Lehrer, an mehr Mobilität zwischen den Schulen und den Bundesländern (Bremen soll nicht nur im eigenen Saft kochen) sowie an einer systematischen Nachwuchsförderung und Professionalisierung von Schulleitungen.
Das Bremer Schulwesen kostet viel Geld. Im Bundesvergleich, darauf hatte ich bereits hingewiesen, ist es besonders teuer. Angesichts knapper öffentlicher Ressourcen müssen wir die Wirksamkeit, die Effizienz und Effektivität der Arbeit genau überprüfen und uns bemühen, höhere Leistungen bei verminderten Kosten zu erreichen. Das ist für Sie nichts Neues, sie werden oft genug vor dem gleichen Problem in ihrem Betrieb stehen.
Neben den o.g. Maßnahmen werden wir deshalb eine „Gesellschaft für Bildungsinfrastruktur“ gründen, eine GmbH, die uns bei der Reduzierung von Kosten helfen soll. In sie werden zunächst Aufgaben eingegliedert, die nicht zum Kerngeschäft von Lehrerinnen und Lehrern gehören, also z. B.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir sind uns bewusst, dass wir Hausaufgaben machen müssen, die sich aus den schlechten Leistungsbilanzen ergeben. Ich wünsche mir umgekehrt von Ihnen, dass sie den Jugendlichen aus Bremer Schulen die Chance geben, in Ihren Betrieben einen Ausbildungsplatz zu bekommen, der ihnen eine Grundlage für die weitere Berufstätigkeit bietet. Wir dürfen nicht zulassen, dass Jugendliche nach mehreren Schleifen im beruflichen Schulwesen – die über dies auch in großem Maße Steuergelder kosten – immer wieder erfahren, dass es für sie keinen Ausbildungsplatz und oft genug auch keine Arbeit gibt. Für gemeinsame Gespräche zu dieser Frage stehe ich jeder Zeit zur Verfügung.“