Der Präsident des Bremer Senats, Bürgermeister Dr. Carsten Sieling, hat anlässlich der in Bremen tagenden Synode der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) die Rolle der Kirchen bei der Unterstützung und Unterbringung der Flüchtlinge gewürdigt. Sieling: "Ich erlebe, wie sich die Kirchen in unserem Land für die Verbundenheit unterschiedlicher Kulturen und Religionen engagieren." Die Kirchen seien ein Ort, "in denen die Nöte und Hoffnungen der Menschen an- und ausgesprochen werden, in denen getröstet und ermutigt, beraten und geholfen wird."
[Es gilt das gesprochene Wort!]
Grußwort anlässlich der EKD-Synode am 7. November 2015, Empfang im Bremer Rathaus:
"Sehr geehrte Frau Präses Dr. Schwaetzer,
sehr geehrter Herr Ratsvorsitzender Prof. Dr. Bedford-Strohm,
liebe Frau Bosse, lieber Herr Brahms,
sehr geehrte Synodalen,
meine Damen und Herren!
Ich heiße Sie alle hier in diesem wunderbaren geschichtsträchtigen Saal, unserer „guten Stube“, wie man in Bremen sagt, herzlich willkommen und wünsche Ihnen eine erfolgreiche Tagung und einen guten Aufenthalt in unserer schönen und lebendigen Stadt.
Als Bischof Willehad im November 789 auf dem Domhügel, dem Rathaus direkt gegenüber, eine Kirche weihte, legte er einen wichtigen Grundstein für die Entwicklung des Zusammenlebens der Menschen in Bremen. Fast 750 Jahre lang waren die Bremerinnen und Bremer dann gut katholisch, zweieinhalb Jahrhunderte davon galt Bremen sogar als das „Rom des Nordens“.
Wohl als erste der norddeutschen Städte wird Bremen dann 1524 eine evangelische Stadt. Der Holländer Heinrich von Zütphen, ein Freund von Martin Luther, hat dabei mit seiner besonderen Begabung zur Predigt entscheidend mitgeholfen. Er attackierte die hohe Geistlichkeit, und seine deutliche Sprache stieß auf Begeisterung. Der Rat und der damalige Bürgermeister Daniel von Büren der Ältere, bei dem viele sich über Heinrich von Zütphen beschwerten, erklärte sich für nicht zuständig in Glaubensdingen und schützte so die Reformation der Stadt. Heinrich von Zütphen fand nicht überall so viel Schutz wie im schon damals offenen Bremen. Er wurde im Dezember 1524 in Dithmarschen als Ketzer umgebracht und verbrannt. Das Fortschreiten der Reformation war dennoch nicht aufzuhalten.
Auch wenn es in der über 1200 Jahre andauernden Geschichte von Kirche und Staat in Bremen genau so viel Gegeneinander wie Miteinander gegeben hat, wirken Kirchen und Senat auf vielen unterschiedlichen Feldern gut zusammen – gemeinsam zum Wohl des Landes und ihrer Menschen.
Meine Damen und Herren.
Unser Grundgesetz beginnt mit dem Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ich bin überzeugt: Es gibt auch eine Würde unserer Gesellschaft, auch unserer städtischen Gesellschaft. Es ist eine Würde, die gerade angesichts der vielen Menschen, die bei uns Zuflucht suchen und der schwierigen Lage all derer, die eher am Rande stehen, eine aktualisierte Bedeutung hat. Die Kirche ist ein wichtiger Träger unser aller Bemühens, die Menschenwürde in den Alltag zu übersetzen. Das heißt konkret: einzustehen und da zu sein für den Nächsten und Fernsten. Mund zu sein für die Stummen, für die Mühseligen und Beladenen, für die Erniedrigten und Beleidigten.
Die Kirche hilft sehr, die ethische Dimension des ökonomischen und politischen Handelns zu stärken. Sie hilft, in unserer immer stärker vernetzten Welt das Bewusstsein zu kräftigen, dass Verschiedenheit bereichert und nicht bedroht. Sie hilft, Politik und Gesellschaft mit einem doppelten Blick zu sehen, mit der Sorge für das Ganze und der Achtung des Besonderen. Dafür danke ich Ihnen sehr. Das sage ich grundsätzlich, aber auch sehr konkret in Bezug auf die Unterstützung bei Unterbringung, Aufnahme und vielfältige Hilfe für Menschen, die aus Flucht und Vertreibung zu uns kommen. Bei uns in Bremen und Bremerhaven sind es im Rahmen der evangelischen Kirche insbesondere die drei evangelischen Kirchen, die Bremische Evangelische Kirche (BEK), die Ev.-luth. Landeskirche Hannovers und die Ev.-ref. Kirche, sowie das Diakonische Werk Bremen mit seinen Mitgliedseinrichtungen.
Ich habe die Würde unserer städtischen Gesellschaft angesprochen. Eine Stadt besteht nicht nur aus ihren Räumen, aus ihrer Infrastruktur, ihrer Industrie, ihrer Verwaltung und ihren Bewohnerinnen und Bewohnern.
Es gibt auch ein geistiges Klima, ein öffentliches Bewusstsein, es gibt auch die Seele einer Stadt. In der Seele der Stadt spiegeln sich die Werthaltungen. Hier geht es um Abschirmung oder Offenheit, um Enge oder Weite, um Kälte oder Mitgefühl, um Verzagtheit oder Hoffnung, um Argwohn oder Vertrauen, um Ichbezogenheit oder Solidarität.
All diese Gefühle gehören zum menschlichen und zum gesellschaftlichen Leben. Und sie brauchen Orte, wo sie zur Sprache gebracht werden können. Die Kirchen bieten - auch im übertragenen Sinne - wichtige Räume, in denen die Nöte und Hoffnungen der Menschen an- und ausgesprochen werden, in denen getröstet und ermutigt, beraten und geholfen wird.
Wir wissen, dass die Gefühle in der Regel mehr Macht über die Menschen haben als Verstand und Vernunft. Wir wissen auch, wie Gefühle manipuliert und missbraucht werden können. Und wir erleben es heute ja fast täglich. Die im wahren Sinn des Wortes humanen, menschlichen Gefühle, die sich zeigen im Wunsch nach einer gerechten Gesellschaft, im Kampf gegen Hunger und Ausbeutung, im Einsatz für Teilhabe, Anerkennung und Menschenwürde, auch und gerade im Umgang mit den Flüchtlingen - sie gründen ganz wesentlich in der jüdisch-christlichen Tradition.
Die Bibel hat etwas Wichtiges in die Geschichte des menschlichen Denkens gebracht: die Fremdenliebe. In den fünf Büchern Mose, mit denen die Bibel beginnt, steht ein Vers mit dem Gebot: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Diesem einen Vers stehen 36 Stellen gegenüber, die gebieten, "den Fremden zu lieben". Ich erlebe, wie sich die Kirchen in unserem Land in diesem Sinne für die Verbundenheit unterschiedlicher Kulturen und Religionen engagieren.
Meine Damen und Herren.
Jede Stadt bildet eine eigene Welt. Und zugleich bildet sich die ganze Welt in ihr ab. Widersprüchliches und Gegensätzliches sind hier auf engstem Raum zu sehen: Macht und Ohnmacht, Armut und Reichtum, Einheimische und Zugewanderte, Bildung und Unbildung, Wachstum und Niedergang, Altes und Neues. Vielfalt in jeder Beziehung.
Vielfalt und Vielstimmigkeit können das Leben reich und bunt machen. Aber sie sind immer Chance und Bedrohung zugleich. Bunte Flecken ergeben noch keinen farbenfrohen Flickenteppich. Viele Stimmen noch keinen Chor. Den Zusammenhalt einer Stadt und einer Gesellschaft kann man nicht von oben verordnen. Er muss gewollt sein und von unten wachsen. Und er entsteht nicht von selbst. Allgemeine Menschenliebe ist uns offensichtlich nicht quasi genetisch gegeben. Der Mensch ist aus seiner Entwicklung heraus so programmiert, dass er das Andere und Fremde auf den Bedrohungsgehalt überprüft, der ihn durchaus auch zu ängstigen in der Lage. Umso mehr brauchen wir ein Ethos, das Offenheit und produktive Neugier fördert und allen Menschen die gleiche Würde zuspricht.
Die gute Nachricht, die von den Kirchen gelehrt und gelebt wird, ist dafür ein wichtiger Beitrag.
Meine Damen und Herren.
Hier in dieser Halle über dem Bild, das den weisen König Salomon darstellt, sind in lateinischer Sprache Sätze aus dem Alten Testament zitiert. Dort ist auch zu lesen, frei übersetzt, dass wir die Fremden so gerecht behandeln sollen wie die Einheimischen.
Wir haben im Deutschen ein wunderbares Wort, von dem man sagt, dass es nur schwer übersetzbar ist: Es ist das Wort Heimat. In ihm steckt der Wunsch nach Geborgenheit und Vertrautheit. Heimat ist der Ort, an dem wir uns angenommen fühlen. Heimat ist etwas, das jeder Mensch braucht, gerade dann, wenn alles aufgegeben werden musste.
Welche Herausforderung, aber auch welch eine schöne und sinnvolle Aufgabe ist unser Bemühen, dass alle Menschen sich bei uns heimisch fühlen können.
Ich freue mich, dass Sie Ihre Synode hier in Bremen stattfinden lassen. Und ich weiß, dass Ihr Engagement eine Grundlage bildet für eine brüderliche und solidarische Gesellschaft."