Dokumentation zur Geschichte der Bremer Heimerziehung 1945 bis 1975
17.07.2012In den Jahren 1949 bis 1975 lebten etwa 700.000 bis 800.000 Kinder und Jugendliche in Säuglings-, Kinder- und Jugendheimen in der Bundesrepublik Deutschland. Viele von ihnen sind dort in traumatisierenden Lebens- und Erziehungsverhältnissen aufgewachsen. Auch in den zahlreichen Heimen in Bremen hat es Geringschätzung, psychische, körperliche und sexuelle Gewalt gegeben, Demütigung, und Isolation. Einen Beitrag zum Aufarbeiten dieser Geschichte liefert eine Dokumentation mit dem Titel: „Und keiner hat sich gekümmert. Dokumentation zur Geschichte der Bremer Heimerziehung 1945 bis 1975“. Das 140 Seiten umfassende Heft dokumentiert Berichte von 70 ehemaligen Heimkindern, die bereit waren, einige Erinnerungen aus ihrer persönlichen Geschichte im Gespräch mitzuteilen. Außerdem stellt der Bericht ihre Erfahrungen in einen historischen Kontext.
„Es ist mir ein persönliches Anliegen, den von Unrecht, Gewalt und Missbrauch betroffenen ehemaligen Heimkindern meine Anerkennung auszudrücken für den Mut, ihre persönliche Geschichte öffentlich zu machen“, sagte Anja Stahmann, Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen. „Die vorliegende Dokumentation ist zudem ein notwendiger Beitrag, die Würde der Menschen wiederherzustellen, die den Schutz der staatlichen Gemeinschaft erhalten sollen und stattdessen bis heute anhaltendes Leid erfahren mussten.“
Der jetzt vorgelegte Bericht ist verfasst vom Historiker Robert Fuchs und geht – wie vergleichbare Berichte in den übrigen Bundesländern auch – auf eine Anregung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages zurück, der sich mit einer Bitte des „Vereins ehemaliger Heimkinder“ befasst hatte. Der Petitionsausschuss hat im Jahr 2008 die Aufarbeitung der Situation von Kindern und Jugendlichen in Erziehungsheimen empfohlen. Anfang 2009 hat sich in Bremen der regionale Arbeitskreis zur Aufarbeitung der Heimerziehung im Land Bremen gegründet, in dem das Landesjugendamt vertreten war, das Amt für Soziale Dienste in Bremen, das Amt für Jugendhilfe, Familie und Frauen in Bremerhaven sowie die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Bremen (LAG; Arbeiterwohlfahrt, Caritasverband, Diakonisches Werk, Paritätischer Wohlfahrtsverband, einzelne Einrichtungsträger).
Der historische Kontext
Die Dokumentation zeigt, dass es bis weit in die 1970er Jahre hinein ein gesellschaftliches Klima gegeben hat, in dem Gewalt in der Erziehung als probates Mittel galt. Die Gerichte habe nicht nur Eltern, sondern auch dem Erziehungspersonal in Heimen ein Züchtigungsrecht zugestanden, das zwar seit den 1950er Jahren umstritten war, aber bis hin zum Bundesgerichtshof bestätigt wurde. Das Recht zur körperlichen Züchtigung wurde Eltern, Lehrern und Erziehungspersonal zugesprochen. Strafen mussten „angemessen“ sein und „aus erzieherischer Intention und im Interesse des Kindes“ erfolgen, wie die Dokumentation die damalige Rechtslage wiedergibt. Entwürdigende, gesundheitsschädigende und „quälerische Strafen“ waren nicht erlaubt, Arrest und Essensentzug aber durften nach der Rechtsprechung auch aus „nichtigem Anlass“ verhängt werden (Seite 24 in der Dokumentation). Vor dem Hintergrund des „sündig geborenen Kindes“ im christlichen Menschenbild spielten Strafe und Demut zudem eine bedeutende Rolle, wobei die Strafe „aus Barmherzigkeit und Liebe zu dem Erziehungsbedürftigen erfolgen und von Vergebung begleitet werden“ sollte (Seite 26). Insgesamt waren die Erziehungsziele bis in die späten 1960er Jahre geprägt von Werten wie „Fleiß, Pünktlichkeit, Ordnung, Gehorsam und einer strengen Sittsamkeit“. Abweichungen galten als Zustand der „Verwahrlosung“ (Seite 25), die eine Bestrafung rechtfertigte.
Wörtliche Einlassungen von ehemaligen Heimkindern
In einer Vielzahl von Zitaten macht die Dokumentation deutlich, wie Heimkinder ihre Einweisung und häufigen Wechsel in andere Heime erlebt haben – den Alltag, die Erziehungspraktiken mit Essenszwang, Züchtigungen und entwürdigenden Strafen. Die Berichte dokumentieren Arbeitseinsätze, tabuisierte Sexualität, sexuelle Stigmatisierung und Gewalt sowie eine unzureichende Vorbereitung auf die Zeit nach dem Leben im Heim. „Die ersten Tage hab ich nur geheult und nach meiner Familie gerufen.“ Im Heim „begann dann für mich die Hölle.“ „Ich wurde nicht mehr beim Namen genannt, war nur noch eine Nummer.“ „Da war es dann wie im Knast.“ „Nicht nur der Hausvater selbst war brutal, er hatte sich auch die richtigen Erzieherinnen ausgesucht.“ „Auch die „Tanten“ (das Erziehungs-Personal) waren schrecklich: Keine Zuwendung, keine Sensibilität für kindliche Bedürfnisse und Gefühle, nichts Menschliches, in den Arm genommen wurde man nie.“ „Das ganze Leben im Dorotheenheim war streng und emotionslos.“ „Die Wäsche fiel runter und ich bekam Prügel.“ „Wir mussten für die Torfloren Schienen verlegen – bei minus zehn Grad Kälte, ohne Handschuhe, sodass es nicht zu verhindern war, dass ab und zu ein paar Hautfetzen hängen blieben... Als ich nicht mehr konnte, wurde mir der Hammer ins Kreuz geschleudert.“ „Wir Jungs bekamen für ganztägige Arbeiten lediglich fünf DM Taschengeld wöchentlich.“ „Wir mussten bis zu zwei Zentner schwere Fenstersimse herstellen…. Manchmal wurden wir zu einer der Firmen von einem Erzieher mit dem Bulli gefahren, zu anderen gingen wir alleine. Aber egal was und wie: Geld gab es nur höchstens mal 1,50 DM zum Ausgang. Weil mir der meistens gekürzt wurde, kriegte ich also praktisch nichts.“
Vereinzelt berichten ehemalige Heimkinder auch von positiven Erfahrungen, von gerechten, zugewandten Heimleitern, Personal, das die Kinder „knuddelt“, von einer Leiterin, die den Kontakt zur leiblichen Mutter organisiert und „mir sogar das Fahrgeld gegeben“ hat (Seite 43). Doch die Professionalität des Heimalttags hat selbst positive Gefühle belastet: „Man verliebt sich ja immer wieder in eine Erzieherin, und die ging dann Knall auf Fall weg.“ (Seite 44)
„Wir bitten um Verzeihung“
„Zuhören ist die Basis des menschlichen Miteinanders und dadurch eine wesentliche christliche Aufgabe“, schreiben Renke Brahms von der Bremischen Evangelischen Kirche und Dr. Martin Schomaker in ihrem Vorwort zu der Dokumentation. Die Kirchen hätten aus den Gesprächen gelernt, „denn sie müssen die Diskrepanz bewältigen – zwischen dem Anspruch, die Liebe Gottes zu bezeugen, und der Wirklichkeit, in der Menschen unter kirchlicher Schuld schwere Verletzungen zugefügt worden sind. Die Schuld für dieses Unrecht wiegt schwer, eine „Ent-Schuldigung“ scheint unmöglich. Wir bitten um Verzeihung.“
Auch die LAG „bedauert zutiefst, was in den 1950er, 1960er und den frühen 1970er Jahren in Säuglings-, Kinder- und Jugendheimen und damit auch in Einrichtungen der Mitglieder der LAG in Bremen und Bremerhaven geschehen ist.“ Es habe Leid gegeben, „zu wenig Förderung und zu wenig Vorbereitung auf ein selbstständiges Leben.“ Die LAG „entnimmt dem Bericht mit Bedauern und Scham, dass es auch in Heimen der Wohlfahrtspflege Vernachlässigung von Kindern und Gleichgültigkeit gab, dass Kinder und Jugendliche gedemütigt und geschlagen wurden.“
Die Anlauf- und Beratungsstelle in Bremen
Seit Februar gibt es in Bremen eine Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder beim Versorgungsamt in der Friedrich-Rauers-Straße. Sie unterstützt ehemalige Heimkinder in vielfältiger Weise. Insgesamt haben sich seit Februar 78 Frauen und Männer bei der Beratungsstelle gemeldet, davon waren 60 Prozent in Heimen außerhalb Bremens untergebracht.
„Wichtigste Aufgabe der Anlauf- und Beratungsstellen ist es, den ehemaligen Heimkindern Zeit für die Schilderung des erlittenen Leides und Unrechts zu widmen“, sagte Sozialsenatorin Anja Stahmann. „Wir wissen heute, dass es auch in Bremer Einrichtungen zu verachtender Behandlung, Missbrauch und Ausbeutung gekommen ist. Ich möchte, dass die Betroffenen bei uns Hilfe und ein offenes Ohr finden.“ Die Anlauf- und Beratungsstelle soll jeden Einzelnen bei der Aufarbeitung seiner eigenen Lebensgeschichte Unterstützung anbieten.
Betroffene können zudem in einem gewissen Umfang finanzielle Ansprüche geltend machen. Bremen beteiligt sich, wie alle westdeutschen Bundesländer, an dem „Fonds für Opfer von Unrecht und Misshandlungen in der Heimerziehung der Bundesrepublik in den 1950er bis 1970er Jahren“ (kurz: „Fonds Heimerziehung“). Das Land zahlt insgesamt 540.000 Euro in diesen Fonds ein. Die Länder können Zahlungen des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) an die Betroffenen veranlassen. Insgesamt haben der Bund, die westdeutschen Länder und die Kirchen sich verpflichtet, 120 Millionen Euro in den Fonds einzuzahlen. Der Fonds soll dazu beitragen, Folgeschäden der Heimerziehung finanziell abzumildern. Dazu gehören etwa geminderte Rentenansprüche wegen damals nicht gezahlter Sozialversicherungsbeiträge.
Betroffene mit Wohnsitz in Bremen – unabhängig davon, ob sie in Bremen oder in einem anderen westdeutschen Bundesland im Heim gelebt haben – können sich im Versorgungsamt unter Telefon 361-16799 oder 361-5618 melden, E-Mail: mailto:abstelle@versorgungsamt.bremen.de.
Die Dokumentation zur Geschichte der Bremer Heimerziehung, herausgegeben vom Arbeitskreis zur Aufarbeitung der Heimerziehung im Land Bremen, steht als Download kostenlos zur Verfügung auf der Startseite der Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen, www.soziales.bremen.de. Gegen eine Schutzgebühr von zehn Euro (Versandkosten inklusive) kann sie zudem bestellt werden bei der Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen, Frau Pfeffer, E-Mail: mailto:martina.pfeffer@soziales.bremen.de.