21.01.2002
Trauerrede des Präsidenten des Senats, Bürgermeister Henning Scherf, zum Tod von Senatorin Hilde Adolf anlässlich des Staatsaktes im Bremer Rathaus am 21.01.2001
"Du wirst uns unvergesslich bleiben"
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Trauergäste,
wir haben uns hier in der Oberen Rathaushalle eingefunden, um von Hilde Adolf Abschied zu nehmen. Ihr Ehemann Wolfgang, ihr Sohn Eike, ihre Schwester ihre Verwandten sind bei uns.
Jeder von uns, oder die meisten von uns, tragen ein ganz lebendiges Stück „Hilde Adolf“ in sich, mir geht es genauso. Ich sehe sie vor mir und kann es überhaupt nicht fassen, dass ich mich von ihr verabschieden soll. Ich sehe sie vor mir, wie sie unermüdlich von morgens bis abends auf Menschen zugeht, wie sie die Sprache findet, Menschen zu erreichen, ganz gleich, ob sie gut ausgebildet sind oder ob sie eine schlechte Ausbildung haben, egal, ob sie jung sind oder alt, egal, ob sie gesund oder krank sind, ob sie hier geboren oder ob sie von weit her als Immigranten gekommen sind. Hilde Adolf hat es verstanden, wie kaum ein anderer, Menschen zu erreichen, unverwechselbar, direkt, ohne dieses ganze Wortgeklingel, was wir sonst so drauf haben, wir Politiker, dieses sich hinter Statussymbolen Verstecken, das war nicht ihre Sache. Sie war direkt. Sie war unmittelbar. Sie war persönlich. Sie war Mensch. Mensch, der für die anderen erreichbar war, der sich auch verausgabt hat in dieser Nähe und in dieser unermüdlichen, fast gar nicht in dieses knappe Leben hineinzupackende, tatkräftige, sich dem Alltag stellen.
Ich habe viele, viele Situationen mit Hilde erlebt, die ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Ich habe sie zum ersten mal erlebt, wie sie sich in Bremerhaven für die Frauenarbeit engagierte. Das waren die von Gewalt Bedrohten, von Arbeitslosigkeit Bedrohten, von Ausländern Bedrohten, für die wenige von uns Zeit haben, die viele von uns übersehen, die hat sie ermutigt, die hat sie erreicht. Mit denen hat sie einen neuen Anfang organisiert, für die hat sie gearbeitet, die haben das verstanden und diese Arbeit muß auch über ihren Tod weitergelten.
Sie hat sich um Kinder gekümmert wie sonst wenige, ich habe sie oft erlebt, wie sie auf Kinder zugegangen ist, wie sie sich dann noch kleiner gemacht hat als sie sowieso schon war. Sie ist ja anders als ich gebaut und hat das so direkt gemacht, wie man es überhaupt nur machen kann, und die Kinder haben das begriffen. Die Kinder haben verstanden, da kommt jemand, der ein Herz für uns hat. Der versteht uns, der will mit uns fröhlich sein, der will mit uns das Beste draus machen. Sie hat auf unverwechselbare Weise gemacht - auch mit ausländischen Kindern, die gar nicht die Sprache konnten, die aber wußten, das ist ein Mensch auf den wir zugehen können, zu dem wir Vertrauen haben können, der uns etwas Gutes tun will, der uns aufnimmt.
Das gleiche hat sie mit Arbeitslosen, mit Langzeitarbeitslosen, mit Leuten gemacht, die sich schon aufgeben wollten oder die resigniert hatten, oder die sich sagten, es kümmert sich sowieso keiner mehr um uns, wir taugen für nichts mehr. Wenn die dann das Glück hatten, mit Hilde zusammenzukommen, dann war das mit dem „Fordern und Fördern“ nicht eine abgegriffene Politikerfloskel, sondern das war wirklich was, das konnte man erleben, wie sie die Menschen erreicht hat, ermutigt hat, wieder auf eigene Beine zu kommen, wieder selber was zu machen, nicht nur zu warten, bis ein anderer kommt, auf den man sich dann irgendwie wieder einlassen kann, sondern selber ein Stück dazu beizutragen, das rausführt aus dem gerade erlebten Elend.
Ich habe das erlebt, wie sie das mit alten Leuten gemacht hat. Sie konnte wunderbar mit alten Leuten umgehen. Sie hat sich auch gekümmert hat um ein Hospiz. Wir haben das in Bremen inzwischen eröffnen können mit ihr zusammen, sie hat sich in Bremerhaven dafür eingesetzt, dass es so etwas ähnliches auch dort gibt. Sie hat eigentlich den ganzen Bogen, den Menschen erleben, eingezogen, hat versucht, sich nicht nur die Schokoladenseiten von Leben oder von Biographien rauszusuchen, sondern sie hat immerr alles versucht, und wer sie erlebt hat, wie sie als Kabarettistin versucht hat, immer wieder Leute zu erreichen, der wird sie nie vergessen, weil sie auch da unverwechselbar war, weil sie da auch Mut machte. Selbst wenn sie ganz kritisch war, ganz giftig war - sie war nie feindselig, das war nie, dass man sagen konnte, oh Gott, da komm ich nicht mehr vor, sondern sie hatte immer eine Brücke, immer eine Einladung zum Mitdenken, immer eine Einladung zum Teilhaben ausgesprochen.
Ich weiß nicht wie es Ihnen geht, ich möchte mich gerne für das bei Hilde bedanken, was ich selber in der Zeit in der ich mit ihr zusammengearbeitet habe, hier im Senat, vorher schon in der Bürgerschaft von ihr auch ganz persönlich abbekommen habe. Sie hat auch mir, wie uns Kollegen und auch der Kollegin Christine Wischer, uns allen im Senat, sie war für uns alle unverwechselbar, sie hat uns geholfen, wir haben von ihr ganz viel abbekommen, mitbekommen, sie war ein Geschenk für uns. Das wollte ich ihr persönlich sagen.
Nun ist das Problem, sich auf den Tod einzustellen. Ich hab lange überlegt, wie mache ich das und da hat mir Helmut Hafner geholfen, der hat im letzten Jahr in ihrer Gegenwart eine Rede gehalten, über den Tod und das Leben, und Hilde hat das angehört. Hilde war so angetan von dieser Rede, sie hat gesagt, bitte gib mir mal dein Manuskript, ich möchte das gerne mir aneignen, und aus diesem Manuskript habe ich mir ein paar Sätze herausgesucht, die hoffentlich eine Hilfe oder Brücke sind.
„Die Indianer Amerikas sind überzeugt, dass sie den Tod wie einen Vogel unsichtbar auf der linken Schulter tragen, dass er sie immer und überall begleitet. Mit dem Tod auf der Schulter können wir einfacher und schneller von einem Zustand der Unzufriedenheit in eine Befindlichkeit der Dankbarkeit und Wertschätzung gelangen. Das Leben ist eine Kunst, die wir lernen können, und der Alltag mit all seinen Möglichkeiten, Pflichten, Lüsten, Verrichtungen, Begegnungen, ist das Material für die Lebenskunst. Wie wir dieses Material sehen und sich es uns nehmen oder liegenlassen, es berühren, formen, bilden, behandeln, liegt in unserer Verantwortung und in unserem Vermögen, und dieses „Wie“, wie wir uns sehen und behandeln, wie wir dem anderen begegnen, wie wir unser Leben in die Hand nehmen, dieses „Wie“ enthält entscheidende Impulse aus unserem Mut und unserem Willen, den eigenen Tod, unsere Sterblichkeit in unser Leben mit hineinzunehmen. Nun stößt eine solche Haltung, den Tod ins Leben einzubeziehen, bei der Mehrheit auf Unverständnis, Ablehnung und Widerstand. Manche fragen, wenn die Kunst des Lebens uns lehren will, wie schön, reichhaltig und sinnvoll das Leben sein kann: Ist es da nicht geradezu paradox, den schrecklichsten Schrecken des Lebens, nämlich sein Ende, ins Leben einzubeziehen? Gibt es nicht schon zu viele Ängste, Besorgnisse, Leidenserfahrungen, soll man sich auch noch auf die bittere Realität unserer Endlichkeit einlassen? Wenn das Ziel unseres Nachdenkens die Hoffnung auf gelingendes Leben ist, warum dann Hoffnung und zerstörenden Tod mitbedenken?
Der Tod macht tatsächlich ratlos und sprachlos. Darum wird er behandelt, wie ein von weit draußen kommendes Schicksal, das mit dem Leben nichts zu tun hat. Der Tod wird vom Leben isoliert, und dabei sitzt er uns tatsächlich auf der Schulter und tief drinnen in unserem Geist und in unserer Seele wissen wir es sehr genau. Doch wir haben dieses Wissen eingemauert, weil wir es fürchten. Der Tod ist eine Tatsache des Lebens, er beeinflußt viel stärker als wir vermuten, unsere Sicht des Lebens, unsere Erfahrung und unser Verhalten, unser Gelingen und unser Scheitern. Die offene und ehrliche Auseinandersetzung mit unserer Sterblichkeit wird unser Leben leichter und menschlicher machen.“
Das sind Worte und Sätze, die Hilde gut fand, die Hilde sich selber für ihr Reden und für ihr Denken auch angeeignet hat. Das müssen wir wohl beides aushalten, das dieses voll auf Leben zugehen, wie sie es gemacht hat, alle Menschen anzunehmen eben auch immer in diesen bitteren, täglichen, total zuschlagenden Tod einschließt, der uns überall treffen kann, so wie sie auf dem Wege zur Geburtstagsfeier ihrer Schwester. Fröhlich gestimmt, vermute ich, die Familie vor Augen, das sollte ein schöner Abend werden. Plötzlich ist alles vorbei. Plötzlich geht gar nichts mehr.
Bevor ich aufhöre, möchte ich so etwas wie ein Vermächtnis von Hilde an ihrem Sarg sagen. Was würde sie uns mit auf den Weg geben, wenn sie noch reden könnte? Sie würde sagen, konzentriert euch auf eure Arbeit. Sie würde sagen, macht die Gerechtigkeit zum Mittelpunkt eures Handelns. Überlegt, was ihr tun könnt, damit endlich Gerechtigkeit in dieser Welt einzieht. Sie würde, so denke ich, alles tun, um uns zu ermutigen, lebendige Demokratie, Teilhabe und Teilnahme am Aufbau einer sozialen Bürgerstadt zu schaffen. Sie würde uns fordern, sie würde uns rausholen wollen aus diesem „Wir wissen nicht, wie es weitergeht“, aus diesem „Wir können eigentlich nur weinen und uns verkriechen“. Sie würde die Idee der Zivilgesellschaft, der selbst organisierten Anforderung und Herausforderung, sie würde die Entwicklung vom versorgenden Staat zum aktivierenden Staat von uns sich erwünschen. Also nicht, dass die einen für die anderen da sind und jeder verlässt sich auf den anderen, sondern dass wir das miteinander zu machen haben. Zivilgesellschaft geht nur, wenn wir, jeder so wie er ist, ob er reich oder arm, ob gut ausgebildet oder schlecht ausgebildet, ob er krank oder gesund, ob er behindert oder nicht behindert, egal ob er Ausländer ist oder hier geboren ist - jeder hat sein Stück dazu beizutragen und dann erst geht das mit dieser Idee der Zivilgesellschaft voran. Sie würde sagen, Selbsthilfe hat Vorrang. Sie würde uns auffordern, in unserem bürgerschaftlichen Engagement nicht inne zu halten, sondern voran zu gehen. Sie würde alles tun, um Gewalt gegen Kinder und Frauen Einhalt zu setzen, dagegen anzugehen, mit allen erreichbaren rechtstaatlichen Mitteln. Nicht tabuisieren, nicht drüber weggehen, sondern in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellen. Und sie würde das Recht auf Chancengleichheit und das Recht, anders zu sein, nicht nur zu einem Verfassungspostulat machen, sondern sie würde sagen: Nutzt jeden Tag, nutzt jede Stunde, die euch verbleibt, um dieses große Ziel, für das sie gekämpft hat, für das sie gearbeitet hat, weiter zu fördern, weiter zu bewegen, nicht aufgeben, nicht zynisch resignieren, sondern mutig dieser großen Herausforderung der Ungerechtigkeit entgegentreten.
Liebe Hilde, wir im Senat, wir in der Stadtgesellschaft, wir in der Zivilgesellschaft, verabschieden uns von Dir. Du wirst uns unvergeßlich bleiben.