Was ist die "Bedeutung" eines Textes? Wann wird Miss- oder Nichtverstehen unter Gerechtigkeitsaspekten relevant? Kann Verständlichkeit dem (literarischen) Ansehen schaden? In ihrem vom Kultursenator geförderten, experimentellen Projekt "Variationen: Ein Experiment zur Transformation literarischer Texte" stellt sich Schriftstellerin Jutta Reichelt viele aktuelle, wichtige und auch kontroverse Fragen rund um die Themen Inklusion und die Verständlichkeit von literarischen Texten.
Die Idee zum Projekt geht auf Texte zurück, welche die Schriftstellerin 2019 für das Buch "Blaumeier oder der Möglichkeitssinn" geschrieben hat. Die Grundidee des Buches bestand darin, von Blaumeier (einem bundesweit bekannten Bremer Projekt für Kunst und Inklusion) zu erzählen, indem 21 Menschen mit Texten und Fotos vorgestellt werden. Bei diesen 21 Originaltexten handelt es sich weniger um klassische Portraits als um "literarische Reaktionen auf Begegnungen", um Momentaufnahmen.
Die Autorin nutzte hierfür die vielfältigen Möglichkeiten von Sprache und Rhythmus, Textsorte und Stil, um allein schon dadurch die Individualität der jeweiligen Personen zu betonen. Ohne das Thema der Behinderung, beziehungsweise des vor allem von der Gesellschaft (künstlich) Behindert-Werdens, auszusparen, sollte die Unterscheidung in "behindert oder nichtbehindert" ihren oft so dominierenden Charakter verlieren. Zugleich vermitteln einige Texte einen nachdrücklichen Eindruck von den Diskriminierungen und Zumutungen, denen behinderte Menschen noch immer auf vielfältige Weise ausgesetzt sind.
Einfache Sprache in der Literatur
Während des gesamten Entstehungsprozesses beschäftigte das Blaumeier-Buch-Team die Frage, ob eine Übersetzung der Texte in Einfache Sprache möglich wäre. Wie sollten sonst diejenigen Portraitierten den Texten zustimmen können, die ihre Bedeutung, ihren Inhalt womöglich nicht (vollständig) verstanden? Aber eine Übersetzung in Einfache Sprache würde die Texte auf den Inhalt, auf das "Was" des Erzählten reduzieren und das "Wie", welches literarische Texte ja gerade ausmacht, geriete in den Hintergrund, "als handele es sich dabei bloß um eine (zusätzliche) Verzierung, ein Sahnehäubchen", so Reichelt.
Konfrontiert mit diesem scheinbar unlösbaren Konflikt sah sich Reichelt in einer Zwickmühle. Die Frage musste erst mal hintangestellt werden. Aber als Corona dann der geplanten Buchpräsentation und Lesereihe in den Weg kam, nahm Reichelt die Möglichkeit eines Stipendiums zum Anlass, sich der Frage der Übersetzbarkeit literarischer Texte in Einfache Sprache aus einer anderen Richtung zu nähern. Den entscheidenden Gedankenanstoß lieferte ihr der französische Autor Raymond Queneau mit seinem 1947 erschienenen Buch "Stilübungen", in dem er einen Ausgangstext auf unterschiedlichste Weise variierte. Reichelt griff diese Grundidee auf. Sie schreibt: "Statt dem 'Originaltext' eine einzige 'Übersetzung' gegenüberzustellen und damit über zwei Texte zu verfügen, die in einem eindeutig hierarchischen Verhältnis zueinander standen, würde ich ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit ('Enthält dieser Texte alles Wichtige, das auch das Original enthält?') meiner Phantasie und Kreativität freien Lauf lassen."
Entstanden sind auf diese Weise zahlreiche ganz unterschiedliche (meist kurze) Texte – und Reichelts Plan geht auf: "Ist das noch Kunst oder ist das schon Einfache Sprache?" fragt sie im Hinblick auf einen Text mit dem Titel "Wie es ziemlich genau ungefähr war". In der Nachbarschaft von "Haiku und Tagebuchnotiz" gleicht der Text einem Prosagedicht – und erfüllt das Kriterium: Einfache Sprache.
Kurze Sätze werden abwertend wahrgenommen
"In unsere gesellschaftliche Vorstellung von kurzen Sätzen ist eine Abwertung quasi miteingebaut, die auch unsere Vorstellungen von Leichter und Einfacher Sprache mitprägt", sagt Reichelt und verweist auf Verlyn Klinkenborg, einen Mitherausgeber der New York Times, der in seinem Buch "Several short sentences about writing" genau solchen "Vorurteilen" und falschen Vorstellungen nachgeht und dafür plädiert, viel öfter kurze Sätze zu verwenden. Nicht weil sie einfacher zu lesen sind, sondern weil es (meist) die besseren Sätze sind.
"Ich hätte nicht gedacht, dass die Herausforderungen bei der Übersetzung literarischer Texte in Einfache oder Leichte Sprache auf so unterschiedlichen Ebenen liegen und welch spannende Möglichkeiten sich ergeben, wenn wir die dabei auftretenden Fragen zu einem Bestandteil des kreativen Prozesses machen", fasst Jutta Reichelt ihre Erfahrungen zusammen.
Die Originaltexte, auf welche die Variationen zurückgehen, sind als Hörversion unter www.blaumeier.de/de/veranstaltungen/archiv/2020/Moeglichkeitssinn_Buch.php verfügbar.
Diese Pressemitteilung ist Teil einer Serie, in der über die Projekte der Künstler informiert wird, die über das Corona-Stipendienprogramm des Senators für Kultur finanziert werden. In dieser Reihe bereits erschienen sind:
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