Gewalt zwischen Partnern betrifft auch die Kinder – sie erleben physische wie psychische Gewalt hautnah mit und tragen schwer daran, oft ein Leben lang. Nimmt das bestehende Hilfesystem in Bremen die Kinder gewaltbetroffener Mütter ausreichend in den Blick? Wie können betroffene Frauen so gestärkt und entlastet werden, dass ihnen in all den Verwaltungsgängen und Neuanfängen, die ein Ausstieg aus einer Gewaltbeziehung nötig macht, noch Kraft für ihre Kinder bleibt? Diese Fragen stellt und beantwortet ein Modellprojekt, das heute (23. November) die Senatorin für Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport Anja Stahmann, Landesfrauenbeauftragte Bettina Wilhelm und Dr. Trygve Ben Holland vom Institut für Polizei- und Sicherheitsforschung (IPoS) an der Hochschule für öffentliche Verwaltung gemeinsam vorgestellt haben. Das auf zwei Jahre angelegte Bremer Modellprojekt "Bedarfsanalyse und Bedarfsplanung zur Weiterentwicklung zum Schutz von Frauen vor Gewalt und häuslicher Gewalt" wird vom Bundesfamilienministerium mit 79.000 Euro gefördert, als eines von fünf Projekten bundesweit.
Ziel: Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen umsetzen
"Wir freuen uns sehr, dass wir in Berlin mit unserem Antrag überzeugt und den Zuschlag erhalten haben", erklärt Senatorin Anja Stahmann, die das Projekt beim Bundesfamilienministerium beantragt hat. "Das Projekt gibt uns nun die Möglichkeit unser Hilfesystem für Betroffene häuslicher Gewalt und ihre Kinder zu evaluieren und die einzelnen Stellen besser miteinander zu vernetzen. Wir haben in Bremen eine Vielzahl sehr guter Angebote für Opfer häuslicher Gewalt, aber natürlich können wir noch besser werden und ganz sicher können wir Synergien zwischen den einzelnen beteiligten Stellen schaffen – im Sinne und zum Wohle der betroffenen Frauen und ihrer Kinder. Die Istanbul-Konvention, die nun auch in Deutschland ratifiziert wurde, verpflichtet uns zudem zu solchen weitergehenden Schritten: nämlich zu einer Überprüfung, ob das Hilfesystem greift, und dazu, auch die Kinder explizit in den Blick zu nehmen. Deshalb begrüße ich sehr, dass das Bundesfamilienministerium uns hier ein konzertiertes Vorgehen möglich macht, an dessen Ende ganz sicher eine Verbesserung der bestehenden Prozesse stehen wird."
Runden Tisch "Häusliche Gewalt und Kinder" zum bundesweiten Modell ausbauen
Eines von mehreren Zielen des Modellprojekts, das vom Institut für Polizei- und Sicherheitsforschung (IPoS) und von der Bremischen Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau (ZGF) umgesetzt wird, ist die Optimierung der Arbeit des Runden Tisches "Häusliche Gewalt und Kinder". Dieses 2016 von der ZGF ins Leben gerufene Gremium, an dem neben den Ressorts Bildung, Soziales, Justiz, Inneres und Gesundheit eine Vielzahl von Facheinrichtungen des Hilfesystems beteiligt sind, soll weiterentwickelt werden zu einem Prozessmanagementsystem als Modell, das auch von anderen Ländern und Kommunen genutzt werden kann. "Beim Runden Tisch Häusliche Gewalt und Kinder sind bereits alle Akteurinnen und Akteure des Hilfesystems versammelt. Sie wollen die Situation betroffener Frauen und ihrer Kinder besser in den Blick nehmen und bestehende Abläufe dahingehend verstehen und verändern, dass sie Frauen und Kinder unbürokratisch und gut unterstützen", erklärt Landesfrauenbeauftragte und ZGF-Leiterin Bettina Wilhelm die bisherige Arbeitsweise des Runden Tisches. "Die Vorarbeit aller Beteiligten vom Runden Tisch hat sicher wesentlich dazu beigetragen, dass das Bundesfamilienministerium den Bremer Antrag bewilligt hat. Denn sie besitzen die Expertise und das Engagement, Bestehendes zum Guten zu verändern, und sie haben damit bereits begonnen - darauf baut das Bremer Modellprojekt nun auf. Gewalt prägt Kinder massiv, mit Folgen für ihr ganzes weiteres Leben. Deshalb ist es so wichtig sie zu erreichen und die Spirale der Gewalt zu durchbrechen."
Lotsenfunktion für das Hilfesystem sinnvoll?
Außerdem setzt das Modellprojekt, dort an, wo für Frauen und Kinder der Aufenthalt im Frauenhaus endet. Wie steht es um die Betreuungsangebote – erreichen sie Mütter und Kinder? Welche Mütter, welche Kinder werden nicht erreicht? Das Unterstützung- und Hilfesystem wird analysiert, insbesondere die Schnittstellen zwischen den vielen Aufgaben und Angeboten. Macht es Sinn, neben den verschiedenen beteiligten Stellen eine Person mit Lotsenfunktion zu etablieren? Sie könnte als Ansprechpartnerin für Betroffene und Behörden fungieren, sich auskennen im Geflecht von Zuständigkeiten und Angeboten, die einzelne Hilfen besser aufeinander abstimmen und so Betroffenen so entlasten sowie ein Nebeneinander von Maßnahmen verhindern. Hierzu führt das IPoS Interviews mit Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichten, Frauenhäusern, Wohnungsträgern und Betroffenen. Zudem werden Aktenvorgänge daraufhin analysiert, inwiefern einzelne Maßnahmen die Betroffenen wirklich erreichen, ob sie aufeinander abgestimmt sind oder es Reibungsverluste gibt.
"Die quantitativen wie qualitativen Zwischenergebnisse werden einerseits in sich geschlossene Erkenntnisse umfassen und andererseits letztlich ein in sich geschlossenes Bild im Land Bremen liefern sowie bundesweit übertragbare Anstöße zur Ausrichtung des Betreuungssystems anhand der Istanbul-Konvention", erklärt Dr. Trygve Ben Holland vom Institut für Polizei- und Sicherheitsforschung (IPoS). "Wir begrüßen die pro-aktive Unterstützung der Senatorin für das Projekt und freuen uns auf eine gute wie zielführende Zusammenarbeit mit allen beteiligten Einrichtungen."
Die Istanbul-Konvention
Das "Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt" zielt darauf, Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen und Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Die Konvention wurde am 11. Mai 2011 vom Europarat in Istanbul verabschiedet und wird daher Istanbul-Konvention genannt. 41 Staaten haben sie unterschrieben, mit Deutschland nun 25 Staaten ratifiziert. Mit der Unterzeichnung des Abkommens verpflichten sich die Staaten, Maßnahmen zu ergreifen, die geschlechtsbezogene Gewalt verhindern. Dazu zählen Prävention, Schutz, Strafverfolgung, organisatorische Zusammenarbeit staatlicher und nichtstaatlicher Stellen sowie das Monitoring der Umsetzung. So fordert die Übereinkunft die Zusammenarbeit aller relevanten Behörden, Einrichtungen und Organisationen. Darüber hinaus soll überwacht werden, ob und wie die gemäß der Konvention zu ergreifenden Maßnahmen implementiert werden.
Das Projekt im Land Bremen dient somit der modellartigen Entwicklung der Möglichkeiten zur Umsetzung der rechtlich bindenden Istanbul-Konvention, eine in die Kategorie Menschenrechte einzuordnende völkerrechtliche Regelungen. Diese völkerrechtliche Bindung bedeutet, dass die Ziele der Konvention eines jeden Mitgliedstaates des Europarates erreicht werden müssen, wobei es jedem Staat überlassen ist, auf welchem Wege und durch welche Maßnahmen. Für die Bundesrepublik Deutschland mit seinen 16 Bundesländern bedeutet dies, dass unterschiedliche Varianten möglich sein können. Solche Varianten zu entwickeln und zu erproben, ist Ziel des bundesweiten Modellprojekts des Bundesfamilienministeriums.
Zur Pressemitteilung des Bundesfamilienministeriums:
https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/presse/pressemitteilungen/weiterentwicklung-des-hilfesystems-zum-schutz-von-frauen-vor-gewalt-gestartet/120236
Der Runde Tisch "Häusliche Gewalt und Kinder"
Beim Runden Tisch Häusliche Gewalt und Kinder sind vertreten die Senatsressorts Bildung, Soziales, Justiz, Inneres, Gesundheit, sowie Erziehungsberatungsstellen, Fachstellen Häusliche Gewalt in Bremen und Bremerhaven, Bremer Jungenbüro, Kinderschutzambulanz Gesundheit Nord, Amt für Soziale Dienste für die Schnittstelle Case Management, Stalking-Krisen-Interventions-Team, Vertretung Stalking-Beauftragte der Polizei, Frauenhäuser Bremen und Bremerhaven, GISBU Bremerhaven, Mädchenhaus Bremen e.V., Schattenriss e.V., Kinderschutz-Zentrum Bremen, Fachstelle Gewaltprävention, Fachstelle Migration bei der AWO mit Schwerpunkt Gewalt, Kinderschutzstellen, Fachleute für begleiteten Umgang, Landeskoordinatorin Frühe Hilfen, Ambulante und stationäre Hilfen zur Erziehung, Landesärztekammer, Leitende Familienrichterin, Vertretung Schulsozialarbeit, Kita Bremen, Vertreter_innen der offenen Jugendarbeit, Frühberatungsstellen, Täter-Opfer-Ausgleich.