25.08.2003
Die Akademie für Arbeit und Politik an der Universität Bremen teilt mit:
Leicht begünstigenden Einfluss auf den Schüleranteil mit Tätererfahrungen bei körperlicher Gewalt haben verbale und körperliche Gewalterfahrungen in der Familie, die Pubertät (Jahrgänge 8 bis 10), das männliche Geschlecht, niedrige Schulformen, ungünstige soziale Rahmenbedingungen und ein ausländischer Migrationshintergrund. Die Faktoren stehen häufig miteinander in Beziehung. Beispielsweise besuchen Jungen und Migranten häufiger die Hauptschule. Letztere müssen zudem besonders oft in sozialen Brennpunkten aufwachsen. Werden im Hinblick auf die Migranten diese beiden strukturellen Faktoren in Rechnung gestellt, verliert sich der moderate Überproporz an Migranten unter den Gewalttätern vollständig. Grundsätzlich verbieten die Ergebnisse eine Konstruktion stereotyper Gewalttäter.
Die in den Schulen sehr viel stärker verbreitete verbale Gewalt, etwa die soziale Isolierung und Stigmatisierung von Mitschülern („schlecht machen und ausgrenzen“), wird im Gegensatz zur körperlichen Gewalt überproportional häufig von Gymnasiasten und an sozial privilegierten Standorten (und damit auch von „Deutschen“, Mädchen usw.) praktiziert. Auch hier lassen die Ergebnisse jedoch keine Stereotype zu. Beispielsweise haben 22,2 Prozent der Schüler aus sozial benachteiligten und 29,3 Prozent aus privilegierten Quartieren Tätererfahrungen mit der Ausgrenzung und Stigmatisierung von Mitschülern.
Bei allen Gewaltformen finden sich größere Differenzen zwischen den einzelnen Schulen mit ähnlichen sozialstrukturellen Rahmenbedingungen als zwischen den sozialen Segmenten. Die Schulen haben damit offenbar erheblichen Einfluss auf das Ausmaß an Gewalt. Beispielsweise variiert der Schüleranteil, die etwas auf dem Schulgelände mutwillig zerstört haben, an den privilegierten Standorten zwischen 11 und 18 Prozent. Beim Delikt „Diebstahl/Raub“ haben an den benachteiligten Standorten zwischen vier und knapp zehn Prozent der Schüler Tätererfahrungen.
Der relativ große Einfluss der Schulstandorte korrespondiert mit dem Befund, dass sich das Verhalten des Lehrpersonals in hohem Maße auf das Verhalten der Schüler auswirkt. Je stärker sich die Lehrer aus Sicht der Schüler auch für die Vermittlung sozialer Kompetenzen verantwortlich fühlen, ihre Autorität nicht durch gewaltförmiges Verhalten gewinnen und stattdessen Selbstkritik, Gleichbehandlung, Solidarität, Identifikation mit der Schule und Zivilcourage vorleben, desto geringer ist das Aggressionspotenzial der Schüler. Schüler reproduzieren also nicht nur gewaltförmiges Verhalten der Eltern, sondern ebenso der Lehrer. Besonders das wie auch immer motivierte „Wegschauen“ von Lehrern bei Attacken gegen Schüler sehen die Befragten als gravierendes Problem an. Ein größerer Anteil der Täter antizipiert sogar dieses Lehrerverhalten und kann entsprechende Gelassenheit bei der Ausübung von Gewalt an den Tag legen.
Daneben üben die Freundeskreise erheblichen Einfluss auf die Bereitschaft zum Einsatz körperlicher Gewalt aus, wobei das Verhältnis sicher wechselseitig ist. Beispielsweise geben knapp 12 Prozent der Befragten
an, dass sie sich vorstellen können gewalttätig zu agieren, „wenn mich andere dazu drängen“. Aus diesen 12 Prozent stammen fast die Hälfte aller Täter bei Diebstahl oder Raub bzw. Waffengewalt. Neben dem Lehrerverhalten und der Einbindung der Eltern ist somit die Einbindung und Öffnung von Cliquen, die sich stark über Gewalt definieren, in den Gewaltdiskurs eine vordringliche Aufgabe.
Die gegenwärtig stark diskutierte Bewaffnung von Jugendlichen war ebenfalls Gegenstand der Befragung. Insgesamt geben acht Prozent der Schüler an, dass sie manchmal oder regelmäßig Waffen mit sich führen, wobei diese vom einfachen Messer bis zur Schusswaffe reichen. Wenn 23 bzw. 22 Befragte aus der Sekundarstufe I glaubwürdig angeben, dass sie scharfe bzw. Gaspistolen mit sich führen, etliche Schüler Schlagstöcke oder Schlagringe besitzen, dann ist dies ein alarmierender Befund, dem entgegengewirkt werden muss.
Aus Sicht der Schüler sind für eine verbesserte Gewaltprävention primär ordnungspolitische und repressive Schritte notwendig. So berechtigt die Forderung nach der Sicherung von Schule als Schutzraum ist, so wenig ausgeprägt sind (besonders an privilegierten Standorten) Vorschläge für eine Auseinandersetzung mit den Ursachen von Gewalt und deren mögliche Beseitigung. Ordnungspolitik und Repression sind sicher nicht hinreichend, um eine gewaltfreie Interaktion in der Schule zu sichern und die Schüler mit den notwendigen Kompetenzen für eine offene Gesellschaft auszustatten. Es scheint eine Herausforderung für die Schulen zu sein, die Schüler für die Notwendigkeit eines intensiveren Diskurses über Gewalt zu gewinnen. Dabei ist es sicher hilfreich, wenn nicht nur Fehlverhalten von Schülern, sondern ebenso von Lehrern offen und kritisch thematisiert wird.
Bislang schlagen sich die ausländerfeindlichen Positionen nur zu einem geringen Ausmaß In einer Affinität zu rechtsextremen Parteien und Subkulturen nieder, wobei es insbesondere an den Schulen der Sekundarstufe II große Unterschiede gibt. Beispielsweise reichen die Schüleranteile mit Sympathien für Neonazis differenziert nach Schulen von 1,5 bis 6,6 Prozent. Ungeachtet dieser Differenzen muss sich Schule gerade im Hinblick auf eine zunehmende ethnische Diversifizierung der Gesellschaft grundsätzlich dem Problem der Verbreitung rechten Gedankenguts stellen und dieses Problem in den Gewaltdiskurs integrieren. Natürlich generieren negative Zuschreibungen an die Migranten Aggressionen.
Migranten selbst partizipieren nur selten an jugendlichen Subkulturen. Als Problem wird bei diesen Gruppen häufig angeführt, dass sie von extremistischen Migrantenorganisationen ideologisch indoktriniert und von der Mehrheitsgesellschaft abgekoppelt würden. Die Befragung spricht gegen einen hohen Stellenwert dieser These: So kennt überhaupt nur ein kleiner Teil der Aussiedler und "Ausländer" Migrantenorganisationen (unabhängig von ihrem ideologischen Charakter) und kaum jemand fühlt sich von diesen Organisationen vertreten.
Zu folgenden Themenschwerpunkten sind aus unserer Sicht Initiativen, Maßnahmen und Projekte notwendig. Diese sollten mit an verschiedenen Schulen bereits bestehenden Projekten koordiniert und verknüpft werden. Das steigert die Effektivität aller Projekte und spart zugleich Ressourcen.
Die Themenschwerpunkte sind:
In die auf diese Themenschwerpunkte (weitere wären aus der vorliegenden Untersuchung noch ableitbar) zu beziehenden Initiativen, Maßnahmen und Projekte sollten die Eltern wenn nur möglich mit einbezogen werden. Das von der Deputation für Bildung beschlossene Konzept der Erziehungsvereinbarungen zwischen Eltern und Schulen sollte dazu genutzt werden.