Senatorin Stahmann: Nach Gerichtsbeschluss bekommen medizinische Verfahren neuen Stellenwert
23.08.2018Nach mehreren einschlägigen Beschlüssen des Oberverwaltungsgerichts (OVG) ändert Bremen seine Praxis zur medizinischen Altersfeststellung von jungen Flüchtlingen. Das erläuterte Sozialsenatorin Anja Stahmann heute (23. August 2018) vor der Deputation für Soziales, Jugend und Integration. Betroffen sind Personen, die unbegleitet einreisen und nach eigenen Angaben minderjährig sind, von der Jugendbehörde aber als volljährig angesehen werden. Das medizinische Verfahren zur Altersfeststellung ist nach dem geänderten Verfahren nicht mehr beschränkt auf die Zahnstanduntersuchung, der ein Röntgenbefund des Gebisses zu Grunde liegt. Zusätzlich wird nun die Röntgenuntersuchung der Handwurzelknochen herangezogen. Ist auch in Kombination beider Methoden nicht mit Sicherheit festzustellen, ob der Betreffende sicher volljährig oder vielleicht doch noch minderjährig ist, wird darüber hinaus ein Computertomogramm der Schlüsselbeinknochen erforderlich.
Hintergrund für die Ausweitung der medizinischen Verfahren sind drei Beschlüsse, in denen das OVG sich auf Empfehlungen der „Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik“ in der „Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin“ beruft (unter anderem: OVG: 1 B 82/18). Diese Empfehlungen seien „allgemein anerkannt“, heißt es mit Hinweis auf eine Reihe von OVG- und Oberlandesgerichtsbeschlüssen in mehreren Bundesländern sowie in der Schweiz. Das auf diese Weise festgestellte „forensische Alter“ werde keinesfalls zu hoch angegeben, sondern liege „praktisch immer unter dem tatsächlichen Alter“, so das OVG Bremen. Durch die Kombination der drei Methoden lasse sich folglich „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass eine tatsächlich minderjährige Person versehentlich als volljährig eingeschätzt wird“.
Bremen hatte sich bislang auf die Zahnstanduntersuchung als medizinische Methode beschränkt. Grundlage war eine Empfehlung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf vor dem Hintergrund der Strahlenbelastung, die bei einer Untersuchung der Schlüsselbeine um den Faktor 40 über den Werten für die Gebiss-Untersuchung liege. Das OVG hat diese Angaben in seinem Beschluss gewürdigt.
Bis zum Abschluss der medizinischen Untersuchungen bleibt der Betreffende in der vorläufigen Inobhutnahme des Jugendamtes. Steht am Ende Minderjährigkeit fest, wird er binnen eines Monats in das jeweils zuständige Bundesland weitergeleitet (es sei denn, Gründe des Kindeswohls stehen dem entgegen oder Bremen hat seine Aufnahmeverpflichtung nach dem Königsteiner Schlüssel zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfüllt). Verweigert sich der Betreffende den ärztlichen Untersuchungen, wird ohne die Röntgenbefunde auf Grundlage der vom Gesetz vorgeschriebenen „qualifizierten Inaugenscheinnahme“ über das Alter entschieden, das den jugendamtlichen Verfahren zugrunde gelegt wird.
„Medizinische Verfahren der Altersfeststellung ordnen wir nur an, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes nach einem qualifizierten, mehrstündigen Gespräch zu der Überzeugung kommen, dass der Antragsteller volljährig ist, aber Minderjährigkeit auch nicht sicher ausgeschlossen werden kann“, betonte Anja Stahmann, Senatorin für Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport. „Eine Röntgenuntersuchung ist dagegen nicht erforderlich, wenn das Jugendamt zu dem Ergebnis kommt, dass der Antragsteller minderjährig ist.“
Normalfall der Altersfeststellung bleibt damit die nach dem Sozialgesetzbuch VIII vorgeschriebene „qualifizierte Inaugenscheinnahme“: Zwei Vertreterinnen oder Vertreter des Jugendamtes, unterstützt von einem Dolmetscher, prüfen nach dem Vier-Augen-Prinzip die Gesamtpersönlichkeit des Antragstellers, also körperliche Merkmale wie Stimmlage, Bartwuchs und Gesichtszüge, das Verhalten während des Gesprächs und die erzählte Biografie. Die Berichte werden in dem mehrstündigen Gespräch auf Plausibilität abgeklopft, Zeitläufe und weitere Begleitumstände müssen mit dem angegeben Alter zusammenpassen. Minderjährigen wird Jugendhilfe gewährt.
Hintergrund:
Junge Flüchtlinge aus Ländern, die in Asylverfahren als relativ sicher gelten, sehen die Jugendhilfe oft als eine der wenigen Möglichkeiten an, in Deutschland zu bleiben. Ihr Asylantrag im Verfahren für Erwachsene würde voraussichtlich abgelehnt. Als Jugendliche genießen sie automatisch einen höheren Schutzstatus und sie erhoffen sich, bis zum Ende ihrer Schul- und Ausbildungszeit in Deutschland bleiben zu können, um auf lange Sicht damit auch ein dauerhaftes Bleiberecht zu erwirken.