19.10.2006
Verfassungsgericht anerkennt deutliche Unterschiede zwischen Bremen und Berlin / Böhrnsen:“ Urteil ist Auftrag an die Politik, Eigenanstrengung, Verhandeln und Klagen bleibt der richtige Weg“
Nach der heutigen (19.10.2006) Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erfüllt Berlin nicht die Kriterien für das Vorliegen einer extremen Haushaltsnotlage. Die Maßstäbe und Kriterien, die das Verfassungsgericht in Kontinuität und in Weiterentwicklung seiner bisherigen Rechtsprechung dabei an die Berliner Haushaltslage angelegt hat, geben auch wichtige Hinweise für das Bremer Verfahren. Das Verfassungsgericht hat bestätigt, dass Finanzhilfen im Grundsatz ein zulässiges und als ultima ratio gebotenes Instrument der Bekämpfung extremer Haushaltnotlagen sind. Im Urteil heißt es wörtlich „Weil und soweit Situationen eintreten, in denen die verfassungsrechtlich gebotenen Handlungsfähigkeit eines Landes anders nicht aufrecht zu erhalten ist, ist bundesstaatliche Hilfeleistung durch Mittel zur Sanierung als ultima ratio erlaubt und dann auch bundesstaatlich geboten."(S. 74)
Das Gericht bestätigt auch und erweitert die Kriterien, an denen das Vorliegen einer extremen Haushaltsnotlage zu messen ist. Neben den Indikatoren der Zins-Steuer-Quote und der Kreditfinanzierungsquote hebt das Gericht ergänzend auf Primäreinnahmen und –ausgaben ab. Bremen wird im weiteren Verfahren darlegen, dass es sich nach diesen Indikatoren nach wie vor in einer extremen Haushaltsnotlage befindet. Das Gericht stellt in seinem heutigen Urteil selbst heraus, dass Bremens finanzielle Lage deutlich schwieriger ist als die Berlins: „Dagegen (im Vergleich zu Berlin) haben andere Länder – insbesondere Bremen und das Saarland – eine vergleichsweise schwierige Haushaltslage zu bewältigen. Die Zins-Steuer-Quoten Bremens liegen ausnahmslos – zum Teil drastisch – höher als die von Berlin…" (S. 96) Bremen hat vor diesem Hintergrund gute Chancen, den Fortbestand einer extremen Haushaltsnotlage und seinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf weitere Sanierungshilfen belegen zu können.
Das Verfassungsgericht gibt darüber hinaus klare und wichtige Hinweise für die nötige grundsätzliche Modernisierung des bundesdeutschen Systems der Steuerverteilung. Es weist darauf hin, dass Sanierungshilfen des Bundes in der Systematik der Finanzverfassung eigentlich ein Fremdkörper seien. Ihre Gewährung könnte dazu führen, „notwendige durchgreifende Lösungen, etwa durch Änderung des Schlüssels der Umsatzsteuerverteilung oder angemessene Berücksichtigung von Sonderbedarfen eines Landes, aufzuschieben oder zu unterlassen.“ (S.72) Die von Bremen in der Vergangenheit vorgebrachte Kritik an der Leistungsfähigkeit und Gerechtigkeit des deutschen Finanzsystems wird damit im Urteil des Verfassungsgerichts in mehreren Passagen eindrucksvoll bestätigt.
Bürgermeister Jens Böhrnsen: „Ich habe kein Hehl daraus gemacht, dass ich persönlich Berlin und meinem Kollegen Klaus Wowereit für den Gang nach Karlsruhe die Daumen gedrückt habe. Selbstverständlich wird sich Bremen allen in Karlsruhe gesetzten Maßstäben stellen. Das Urteil benennt klare Kriterien und verlangt hohe Eigenanstrengungen. Ich bin überzeugt: Mit den in unserer Klage vorgelegten Zahlen und Fakten erfüllt Bremen – anders als Berlin - die Kriterien des Urteils für eine extreme Haushaltsnotlage.
Wir werden das weitere Verfahren nutzen, um das Gericht davon mit transparenten, überprüfbaren und nachvollziehbaren Zahlen und stichhaltigen Argumenten zu überzeugen. Bremen ist in der Vergangenheit allen Ansprüchen und Auflagen des Verfassungsgerichts wie des Sanierungsvertrags überzeugend gerecht geworden. Wir haben unsere Eigenanstrengungen belegt und unsere Sparaufgaben bis aufs Komma erfüllt und übererfüllt. Das wird auch in Zukunft gelten. Ich bin deshalb sehr zuversichtlich, dass das Gericht nach den heute dargelegten Kriterien zu dem Ergebnis kommen wird: Bremen hat einen verfassungsrechtlich verbrieften Anspruch auf weitere Hilfen der Solidargemeinschaft.
Ich verstehe das Urteil aber darüber hinaus auch als eindeutigen Auftrag an die Politik, unser Finanzsystem insgesamt neu zu ordnen und unübersehbare strukturelle Verteilungsungerechtigkeiten und Fehlsteuerungen zu beseitigen. Wir haben in der Vergangenheit vielfach deutlich gemacht, in welchem Maße auch Bremen unter diesen Verwerfungen leidet und im Ergebnis benachteiligt wird. Die geplante zweite Stufe der Föderalismusreform ist für diese uns vom Verfassungsgericht aufgetragene Aufgabe der richtige Platz.“
Aus Bremer Sicht sind in dem umfangreichen und differenzierten Urteil folgende Gesichtspunkte besonders zu beachten:
Finanzsenator Dr. Ulrich Nussbaum zum heutigen Urteil: “Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass Berlin sich schon nach den Kriterien des Bundesverfassungsgerichts nicht in einer extremen Notlage befindet. Das gilt für Bremen nicht. Das Gericht hat grundsätzlich den Anspruch auf Sanierungshilfe bei extremer Haushaltsnotlage bestätigt. Allerdings sind die Voraussetzungen für die Hilfe deutlich verschärft worden. Vor allem verlangt das Gericht eine genaue Darstellung, dass alle bestehenden Einsparmöglichkeiten und Möglichkeiten die Einnahmen zu erhöhen, ausgeschöpft worden sind. Bremen wird im weiteren Verfahren seine Ausgabepositionen im Vergleich mit anderen Bundesländern – insbesondere mit den Stadtstaaten - noch einmal im Einzelnen überprüfen müssen. Auch Vermögensveräußerungen müssen geprüft und gegebenenfalls umgesetzt werden. Das Land hat in soweit eine besondere Verpflichtung zur Darlegung gegenüber dem Bund und den Ländern. Positiv wird in dem Urteil hervorgehoben, dass der bisherige Sanierungsverlauf im Saarland und in Bremen nicht gegen das Instrument der Sanierungshilfen spricht.“